2019-09-16
Entfristete Stellen für alle – nicht Tenure für wenige!
Zur Kritik einer Tendenz (nicht nur) im Germanistenverband
Es ist zu begrüßen, dass ein Heft des Germanistenverbandes (2/2018) dem Schwerpunkt ‚prekärer Mittelbau‘ gewidmet wurde – und mehr noch, dass der Verband sich dazu positionieren möchte. Dies ist angesichts der Selbstverpflichtungen der Verbände anderer Fächer überfällig. Zudem unterstützt der Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands e.V. (VHD) und mit ihm fünf weitere Fachverbände die Kampagne „Frist ist Frust“ (http://frististfrust.net/unterstuetzerinnen). Sie fordert, aus Mitteln des seit diesem Jahr verstetigten Hochschulpaktes finanzierte Stellen generell zu entfristen. Schon in der Einleitung des Schwerpunktes in den Mitteilungen deutet sich jedoch eine Tendenz an, dem Problem der massenhaften Befristung von Stellen an Hochschulen (über 90% des Mittelbaus, über 80% inkl. Professor*innen; in anderen Berufen unter 10%) in erster Linie mit einem Ausbau von Professuren mit Tenure Track und einer Reduktion von Stellen zu begegnen. Das hieße, dass „Stellen für Promovierte relativ knapp wären, aber mit einer Perspektive auf Verstetigung ausgestattet würden, die – im Falle weiterer hervorragender Leistungen – mit kalkulierbarer Sicherheit auch eintritt.“ (Mitteilungen 2/2018, 121)
Eine solche Verknappung von Stellen würde mit einer starken Arbeitszeiterhöhung und/oder Arbeitsverdichtung einhergehen – bei schon weit überdurchschnittlichen Arbeitszeiten. Die einzige Alternative wäre eine massive Reduktion der unter der Regierung Merkel deutlich erhöhten Studierendenzahlen (von 37% eines Jahrgangs 2007 auf 58,5% 2013, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/221/umfrage/anzahl-der-studenten-an-deutschen-hochschulen). Damit aber würde Deutschland einen Sonderweg jenseits aller transnationalen Tendenzen beschreiten. Zudem würde Wissen nicht in demokratischer Weise möglichst vielen Menschen zugänglich gemacht, sondern künstlich verknappt. Angemessen wäre stattdessen eine Öffnung des Wissenschaftssystems für sozial weniger privilegierte Gruppen. Eine solche ging mit der Steigerung der Studierendenzahlen keineswegs einher. Gerade Professor*innen (und interessanterweise mehr noch Juniorprofessor*innen) entstammen weit überdurchschnittlich den obersten sozialen Klassen (vgl. Christina Möller, Herkunft zählt (fast) immer. Soziale Ungleichheiten unter Universitätsprofessorinnen und -professoren. Weinheim u.a. 2015).
Professuren mit Tenure Track sind aus zwei Gründen keine Lösung: Erstens wird dadurch der Weg zu einer entfristeten Stelle zwar kalkulierbarer, nicht jedoch in jüngerem Alter erreichbar. Denn das Alter beim Abschluss der Promotion liegt derzeit in den Sprach- und Kulturwissenschaften bei durchschnittlich 36 Jahren. Werden nun im Anschluss eine postdoktorale Beschäftigung von 1,5 (Mitteilungen, 120) bis 2 Jahren (Tenure Track-Programm des Bundesministeriums) als Voraussetzung für eine 6-jähige Tenure Track-Phase mit zwei Evaluationen bis zur Berufbarkeit gefordert, so bleibt alles beim Alten: Professuren können im Schnitt mit Mitte 40 erlangt werden. Zweitens trägt, wie in den Mitteilungen angemerkt, die „Konzentration auf die Professur (…) wesentlich zur problematischen Struktur akademischer Karrierewege bei“ (Mitteilungen, 125). Deutlich vielversprechender ist daher der Ausbau eines Pools an entfristeten Mittelbaustellen mit einem Lehrdeputat von höchstens 8 SWS. Wir plädieren dafür, über die Forderung in den Mitteilungen hinaus nicht ein Drittel aller Stellen zu entfristen, sondern wie in anderen Staaten (Skandinavien, Großbritannien, Frankreich) in weitaus stärkerem Maße üblich alle Stellen nach der Promotion. Damit würde mit ca. Mitte 30 eine Perspektive auf den Verbleib im Wissenschaftssystem eröffnet und zugleich ein verbindlicher Stellenpool eingerichtet, der eine weitere Verschlechterung der Betreuungsrelation aufzuhalten und Arbeitsüberlastung zu reduzieren vermag.
Gegen deutsche Sonderwege – Entfristung für alle nach der Promotion!
Undercurrents – Gruppe gegen Prekarität, September 2019
Unterstützt vom Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft (NGAWiss), https://mittelbau.net