CfP: Literatur lehren
Veröffentlicht am 2020-06-23Was tun wir, wenn wir Literatur lehren? An der Universität, aber auch in der Schule ist Literatur ein fester Gegenstand der Lehr- und Studienpläne. Ein Gegenstand allerdings auch, der ausgesprochen unscharf begrenzt ist: Beginnend bei literaturgeschichtlichem Wissen, über die Vermittlung eines literarischen Kanons und der Aneignung eines textanalytischen Instrumentariums bis hin zur literaturtheoretischen Reflexion unterschiedlicher Lektürestrategien. Als Vermittlung von literatur-spezifischem Wissen ebenso wie als Einübung im Umgang mit Literatur als einem ästhetischen Gegenstand kann das Lehren von Literatur mehr oder weniger konformistisch oder emanzipatorisch gestaltet sein. Gegen eine bloße Reproduktion bildungsbürgerlicher Werturteile haben linke Theoretiker*innen immer wieder die Möglichkeit zur progressiven Aneignung von Texten und der Infragestellung eines etablierten Kanons und literarischer Institutionen betont. Doch kann die Fähigkeit zur kritischen Reflexion im Umgang mit Literatur tatsächlich gelehrt, also innerhalb der Hierarchie von Lehrenden und Lernenden weitergegeben werden?
Die Frage nach dem spezifischen didaktischen Setting bei der Lehre von Literatur stellt sich in Anbetracht der momentanen Corona-Pandemie mit noch größerer Dringlichkeit. Lehre – an der Schule wie an der Universität – geschieht gerade unter radikal veränderten Bedingungen. Unterrichten, Wissensvermittlung und Diskutieren finden außerhalb der institutionellen Räume Schule und Universität statt, ohne die gesamtkörperliche, habituelle Präsenz der Lehrenden und Lernenden. Stattdessen bestimmen neue, digitale Formen die Lehre. Gut möglich, dass sich die Bildungsinstitutionen und die Formen des Unterrichtens bleibend verändern werden.
Die 15. undercurrents-Ausgabe widmet sich einer kritischen Reflexion der Lehre von Literatur: Wie kann ‚Literatur lehren‘ – an der Schule wie an der Universität – als kritisch-emanzipatorische Praxis aussehen? Und was ist überhaupt emanzipatorische Lehre? Unter diesen beiden leitenden Fragestellungen laden wir dazu ein, Vorschläge für Artikel beispielsweise zu den folgenden Problemfeldern einzureichen:
Was lehren wir, wenn wir Literatur lehren? Mit welchen Legitimations- und institutionellen Zwängen sind wir diesbezüglich konfrontiert? Wie ist z. B. politisch mit der fortdauernden Abwertung der Lehre an der Universität umzugehen, wie sie sich etwa in der Abwälzung von Lehraufgaben auf die prekärsten Arbeiter*innen wie Lehrbeauftragte zum Ausdruck kommt?
Kann ‚Literatur lehren‘ – an der Schule wie an der Universität – kritisch-emanzipatorische Praxis sein? Hat Literatur als Gegenstand gar ein besonderes Potential für eine emanzipatorische Lehrpraxis? Oder braucht es dafür unabhängige Einrichtungen wie private Lesekreise?
Wie wirkt sich digitalisierte Lehre auf die Unterrichts-/Seminar-Diskussion von literarischen Texten aus? Und welche Auswirkungen hat sie auf die Tätigkeit der Lehrenden und Lernenden?
Wie kann emanzipatorische Lehre aussehen? Kann es emanzipatorische Lehre in Anbetracht des Gefälles zwischen Lehrenden und Lernenden überhaupt geben? Welche gelungenen Beispiele gibt es dafür?
Wie gehen wir allgemein mit Machtverhältnissen, Ausschlussmechanismen und Hierarchien in der Lehre um? Welche Optionen haben wir, auf unterschiedliche Bildungshintergründe von Schüler*innen oder Seminarteilnehmer*innen einzugehen?
Inwieweit wird Literatur für Ökonomisierungs- und Selbstoptimierungszwänge vereinnahmt, wenn sie zur Kompetenzentwicklung im Unterricht bzw. zur Ausprägung von Softskills beitragen soll?
Gerade angesichts der derzeitigen Situation sind diese Fragen dringlich zu stellen: Die derzeitigen Veränderungen, so mühsam und kräftezehrend sie sich uns auch aufdrängen, bergen das Potential, mit dem Gewohnten zu brechen und Distanz zum angeblichen Normalbetrieb einzunehmen. Im Zuge der Maßnahmen gegen die Ausbreitung der COVID-19-Pandemie sind, wie in allen gesellschaftlichen Bereichen, auch innerhalb der Bildungsinstitutionen bestehende Machtstrukturen, Herrschaftspraktiken und Ungleichheiten noch deutlicher hervorgetreten. Vielleicht kann diese Situation zum Anlass genommen werden, um über Alternativen für die eigene Lehrpraxis wie auch für die Institutionen Universität und Schule als Ganzes nachzudenken.
Die Redaktion bittet bis zum 31. Juli 2020 um Vorschläge für Beiträge zum Thema (Abstracts für z. B. Aufsätze, Essays, Interviews, Rezensionen, Polemiken) an unsere E-Mailadresse undercurrentsforum@gmx.de. Die ausgewählten Beiträge, die eine Länge von 3000 Wörtern nicht überschreiten und keine Fußnoten enthalten sollen, sind dann bis zum 30. September 2020 an die Redaktion zu schicken. Die Redaktion behält sich eine Auswahl aus den eingesandten Texten vor.
Außerdem freuen wir uns über kurze Beiträge von maximal 300 Wörtern, die eigene Lehrerfahrungen thematisieren – sowohl aus Schul- wie Universitätskontexten. Für diese kurzen Beiträge aus dem Lehralltag können die folgenden Leitfragen Nachdenkanlass sein: Was heißt es für euch, Literatur zu lehren? Was waren besonders gelungene Lehrerfahrungen? Oder besonders problematische? Diese kurzen Erfahrungsbeiträge können ebenfalls bis zum 30. September unter undercurrentsforum@gmx.de eingereicht werden.
Redaktion Undercurrents, Juni 2020