Jürgen Schutte, geb. 1938, hatte von 1992 bis 2003 eine Professur für Neuere deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin inne. Er lehrte an Universitäten in Alborg (Dänemark), Peking, Bangkok sowie im Stanford Overseas Studies Program in Berlin. Er arbeitete zur Literatur des 16. Jahrhunderts, der Moderne um 1900 und zur Gegenwartsliteratur. Einen besonderen Schwerpunkt bildete seine langjährige Beschäftigung mit und seine herausgeberischen Verdienste um das Werk Peter Weiss’. Jürgen Schutte gab Peter Weiss’ Notizbücher, seinen Briefwechsel mit dem Literaturwissenschaftler Manfred Haiduk und die Neue Berliner Ausgabe seiner Ästhetik des Widerstands nach Vorgaben des Autors heraus. Zuletzt erarbeitete Jürgen Schutte einen umfassenden Registerband zur Ästhetik. Jürgen Schutte vertrat einen sozialgeschichtlichen Ansatz der Literatur und verstand seine Tätigkeit als Literaturwissenschaftler ausdrücklich als politisch. Er arbeitete zur Literaturtheorie, -interpretation und –didaktik. Seine Lehrbücher Einführung in die Literaturinterpretation (1. Aufl. 1985) und Lyrik des deutschen Naturalismus (1976) sind Standardwerke. Jürgen Schutte kuratierte die Ausstellungen Dichter und Richter. Die Gruppe 47 und die deutsche Nachkriegsliteratur (1988) und Peter Weiss. Gemälde, Zeichnungen, Kollagen, Film, Theater, Literatur, Politik (mit Gunilla Palmstierna-Weiss, 1991) an der Akademie der Künste in Berlin. Veröffentlichungen u.a.: Schympff red. Frühformen bürgerlicher Agitation in Thomas Murners ‚Großem lutherischen Narren’ (1973), Die Berliner Moderne (mit Peter Sprengel, 1982), Peter Weiss: Leben und Werk (mit Gunilla Palmstierna-Weiss, 1991).

Jürgen Schutte ist wenige Tage nach der Zusendung seines Interviews, am 19. Oktober 2018, in Berlin verstorben. Wir, die Redaktion von undercurrents, bedauern dies sehr und hoffen, mit diesem Interview zur Würdigung seines Lebenswerks beizutragen.

 

undercurrents: Sie haben in den 1960er Jahren in Berlin und Zürich Germanistik studiert und sind 1971 mit einer Arbeit zu Frühformen bürgerlicher Agitation in der Reformationszeit am Fachbereich Germanistik promoviert worden. Haben Sie Ihre Arbeit als politisch verstanden und was bedeutete das für Sie?

Jürgen Schutte: Meine Arbeit über Thomas Murner trägt ihren politischen Anspruch in der Form einer programmatischen Grundsatzerklärung vor. Das war ab Mitte der 1960er Jahre ein oft gewählter Weg, den selbst erreichten Fortschritt, die Ablösung von der überkommenen Tradition zu demonstrieren, die nach einem Wort von Karl Marx „wie ein Alp auf dem Gehirn der Lebenden“ lag. Zugleich führte man die literaturwissenschaftlichen Begriffe und Methoden vor, die ab jetzt gelten sollten und rechtfertigte damit das eigene Vorgehen.

Der erste Satz meiner Dissertation lautet:

„Wenn die Literaturwissenschaft ihre historische Aufgabe ernst nehmen will, muss sie ihre Erkenntnisse auf den Gesamtprozess der sich entwickelnden Gesellschaftsformationen beziehen. Das heißt nicht, historische Prozesse auf die literarischen Traditionszusammenhänge bloß abzubilden oder die Texte als Chroniken zu lesen, sondern vielmehr, ‚die Rolle der einzelnen Kultursphären und ihre sich wandelnden Strukturverhältnisse bei der Aufrechterhaltung oder Auflösung der jeweiligen Gesellschaftsform’ zu studieren.“ (Schutte, 1973, 1). 

Dieser Satz war als Provokation gemeint und er wurde auch als eine solche verstanden. Der Streit zwischen „Literaturgeschichte als Sozialgeschichte“ und „Literaturgeschichte und Sozialgeschichte“ am Fachbereich Germanistik lebte in den 1970er Jahren immer wieder auf. Motiviert durch Erfahrungen und neue Erkenntnisse und angefeuert durch die politischen Proteste hatte ich das Thema meiner Dissertation im Jahr 1969 neu formuliert. Aus der Entwicklung der Revolte schien sich zwingend zu ergeben, dass ich den Fokus von den Formen weg auf die gesellschaftlichen Widersprüche legte. Die aufkommende Rezeptions- und Wirkungsforschung und die damit verbundene erhebliche Ausweitung des Kanons literaturwissenschaftlicher Gegenstände kamen meinem Interesse an der gesellschaftlichen Funktion der Literatur entgegen. Die Aktualität der Frühformen bürgerlicher Agitation lag auf der Hand. Es wurde deutlich, dass mit den Frühformen zugleich die Polemik der herrschenden Kreise gegen die Studentenbewegung gemeint war.

Zu Beginn meines Studiums der Germanistik (1961) war ich ziemlich unpolitisch. Politische Fragen wurden im Schulunterricht und zu Hause ebenso wenig thematisiert, wie die Verbrechen des Faschismus und die Tätigkeiten des Vaters im Krieg. Natürlich erschütterten und beschäftigten mich bestimmte Ereignisse, etwa der 17. Juni (1953), der Ungarn-Aufstand (1956), auf welche die Öffentlichkeit intensiv reagierte. Während des Studiums erlebten wir die Cuba-Krise (1962), die Spiegel-Affäre (1962) und mit besonderer Aufregung die Ermordung von J.F. Kennedy (1963). Ihre politische Bedeutung konnte ich jedoch nicht erkennen, und noch weniger verstand ich, trotz eines „sehr gut“ in Deutsch und Geschichte, historische, soziale und politische Zusammenhänge.

Die Wahl meines Studienorts Berlin war nicht politisch motiviert. Unsere Fachlehrerin in Deutsch und Geschichte riet mir, es mit der FU Berlin zu versuchen; dort würde ich vermutlich die gegenwärtige Literatur kennen lernen und vielleicht auch Zugang zum literarischen Leben finden. Mich interessierten Autoren und Werke, die im Deutschunterricht des Gymnasiums nicht vorkamen, weil sie „zu links“ oder zu zeitnah waren oder „für die Heranwachsenden nicht geeignet“. Die Werke, in denen ich meine Konflikte mit der Wirklichkeit wiedererkennen würde und die darüber hinaus als praktische Schulung für meine eigenen Schreibversuche taugten, musste ich aus der zweiten Reihe hervorziehen. Tonio Kröger und Tod in Venedig statt der Hirtennovelle, Günter Eich statt Hans Carossa. Ich war fachlich hoch motiviert und wollte das Studium in möglichst kurzer Zeit durchziehen, denn mir schwebte eine Hochschullaufbahn vor, und außerdem waren auch die drei Jahre aufzuholen, die ich nach dem Abitur durch den Dienst bei der Bundeswehr verloren hatte.

Meine Politisierung fand in zwei Phasen statt, vor Zürich und nach Zürich. Als ich zum Wintersemester 1963/64 nach Berlin zurückkehrte, erschütterte Georg Pichts Artikelserie Die Bildungskatastrophe die Öffentlichkeit. Das gab Anlass, das eigene Studium kritisch zu hinterfragen. Im FU-Spiegel erschienen von Studenten geschriebene Rezensionen von Vorlesungen und Seminaren. Welch ein Skandal! Die Polizei holen? Diese Studenten relegieren? Das waren die aufgeregten Fragen einiger entgeisterter Professoren. Dass nicht wenige akademische Lehrer und Lehrerinnen, von denen einige auch mit Namen genannt wurden, ihre Lehraufgaben nur lässig ausführten, indem sie aus der Grammatik vorlasen oder ihre schon veröffentlichten Schriften paraphrasierten, wurde nun universitätsweit bekannt. Jetzt wollte ich mich unbedingt einbringen. Ich wurde zum Studentenvertreter gewählt und war auch bereit, als studentisches Mitglied in der Studienreformkommission der philosophischen Fakultät mitzuarbeiten. Dort habe ich gelernt: Die Professoren waren zwar eloquent, aber nicht besonders effizient. „Unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren“. Es blieb beim freundlichen Schulterklopfen durch die Professoren. Ohne erheblichen Druck mit geeigneten Formen des Protestes lässt sich gar nichts erreichen. Die Konfrontation zwischen der Universitätsverwaltung, dem Lehrkörper und den Studierenden wurde schärfer und verlagerte sich in der Folgezeit auch auf allgemeine und außeruniversitäre Forderungen, etwa den Streit um das allgemeine politische Mandat der Studentenvertretung. Die vollkommen überzogene Reaktion der Professoren auf die Rezensierung ihrer Vorlesungen trug zur Radikalisierung bei. Die studentische Kritik wurde zur Revolte.

Natürlich hatte ich an der Schule im Gemeinschaftskunde-Unterricht gelernt, wie der Staat funktionieren soll. Wie er tatsächlich funktionierte, zeigte die Obrigkeit mir und vielen anderen in den Jahren des Protests, vom Tod Benno Ohnesorgs (2. Juni 1967), dem Attentat auf Rudi Dutschke (1968) bis zum „Deutschen Herbst“ (1977). Viele tausend Bürger und Bürgerinnen der Bundesrepublik haben – wie ich auch – in den 1960er und 1970er Jahren eine nachhaltige praktische Weiterbildung erfahren. Der Zusammenbruch der Illusionen vom demokratischen Rechtsstaat und vom „Wohlstand für alle“ (Ludwig Ehrhard) war noch viel gründlicher, als es bei den Begegnungen mit aufgehetzten Gegendemonstranten („Geht doch rüber!“), mit uninformierten Mitbürgern (einschließlich der Polizei) und zynischen Politikern zutage trat – das lernten wir erst später. Im selbstorganisierten ‚Abendstudium’, dessen Bedeutung in den heute gängigen Darstellungen über ‚1968’ oft übersehen wird, erarbeiteten wir uns Methoden der kritischen Theorie und des historischen Materialismus.

undercurrents: Sie haben sich in Ihren frühen Forschungen mit dem Naturalismus und der Nachkriegsliteratur, ab Mitte der 1980er Jahre dann als Herausgeber intensiv mit dem Werk Peter Weiss‘ beschäftigt. Welche (forschungs-) politischen Gründe hatte das für Sie? Inwieweit haben diese Themen Interventionen in den herrschenden literaturwissenschaftlichen Betrieb dargestellt? 

Jürgen Schutte: In der Aufstellung meiner Publikationen und Lehrveranstaltungen, der fachlichen wie fachpolitischen Stellungnahmen lässt sich als ein wiederkehrendes Motiv das Verhältnis von Literatur und Herrschaft beziehungsweise Unterdrückung und die Parteinahme für die Unterdrückten erkennen.

„Insofern nämlich bisher alle Gesellschaftsformationen durch Herrschaftsverhältnisse bestimmt sind, und diese, von Ausnahmen abgesehen, nicht allein durch äußere Gewalt aufrechterhalten werden, erfüllt die Literatur als ein Medium der Reproduktion menschlicher Charakterstrukturen eine wechselnde Funktion bei der ‚Verinnerlichung oder wenigstens Rationalisierung und Ergänzung des physischen Zwangs‘ (Horkheimer) - oder aber sie stellt als Kritik die bestehenden Herrschaftsverhältnisse infrage und trägt als Ausdruck der (utopischen) Wünsche zur Emanzipation des sozialen Bewußtseins bei.“. (Schutte, 1973, 1)

Mit dieser Überzeugung bewegte ich mich auf der Ebene der politisch begründeten Orientierung linker Literaturwissenschaft. Gesellschaftstheoretische, auch historisch-materialistische Fragen und Methoden hatten sich inzwischen im kulturwissenschaftlichen Studium und in der Lehre weitgehend durchgesetzt. Sie waren als fachfremde Intervention in den literaturwissenschaftlichen Betrieb bekämpft worden, als wissenschaftliches Banausentum, welches die ästhetische Eigenschaft der Kunst missachtet. Interventionen in den herrschenden literaturwissenschaftlichen Betrieb erfolgten nach meinem Eindruck vornehmlich durch die Gründung von Reform-Universitäten und durch die Besetzung von neu geschaffenen Stellen Mitte der 1970er Jahre. Seitdem bestimmte die durch die Studentenbewegung geprägte Generation das Feld und die fachlichen Auseinandersetzungen in den Sozial-und Kulturwissenschaften. Sie hat den Anschluss an die durch den Faschismus ausgetriebenen Sozialwissenschaften hergestellt und verstand die Germanistik nicht länger als Einübung in die Tradition, sondern als deren Kritik. Deren Zentrum war die Aufarbeitung der faschistischen Vergangenheit. Literatur und Literaturwissenschaft der Nachkriegszeit sind Elemente einer „nachgeholten Resistance“ genannt worden.

Bei der Untersuchung und Edition naturalistischer Lyrik ging ich von der Überzeugung aus, dass das Selbstverständnis einer Literaturwissenschaft hinterfragt werden müsse, die lange genug ihre vornehmste Aufgabe darin sah, „Kulturgüter“ zu konservieren. Denn die historische Bedeutung und zeitgenössische Wirkung eines Werks sind nach meiner Auffassung nicht notwendig an seinen ästhetischen Rang gekoppelt. Anders gesagt: Eine materialistische Literaturgeschichte hat ihre Aufmerksamkeit in gleicher Weise unvollendeten oder unerkannten Initiativen und Werken zuzuwenden, die bald vergessenen worden sind. Schon meine Wahl von Thomas Murner in meiner Dissertation war von dieser Empathie für die Unterlegenen, Erfolglosen bestimmt.

Moderne Dichtercharaktere, mit der die naturalistischen Lyriker die Entwicklung der Literatur überbieten und umstürzen wollten, wurde zu einem katastrophalen Misserfolg. Von der etablierten Kritik weitgehend mit Nichtachtung gestraft oder dem Gelächter preisgegeben, wurde das Buch im „seichten Strom der Modepoesie untergeschwemmt“: es versank in den Fluten der Gründerzeitlyrik und wurde von der Literaturgeschichtsschreibung bis in die 1980er Jahre hinein ignoriert. In diesen Zusammenhang einer literarischen Archäologie gehört meine Beschäftigung mit antifaschistischer Gegenwartsliteratur und mit Brecht. Aus heutiger Sicht war es geradezu zwingend, dass ich mich dann so lange Jahre mit Peter Weiss wissenschaftlich auseinandergesetzt habe. Diese beiden Schriftsteller haben sich wie wenige andere in besonderer Weise politisch auf die Seite der Entrechteten und ihrer Kämpfe gestellt– ohne Konzessionen an die Forderungen der Ästhetik. Die Bedeutung der Ästhetik für die Verteidigung der Kultur kann gar nicht überschätzt werden.

undercurrents: Welche historischen Momente oder sozialen Kontexte in und außerhalb der Universität haben zu Ihrer Politisierung beigetragen? Gab es kollektive Arbeitszusammenhänge jenseits der Universität? Inwieweit konnte die Universität ein Ort politischen Handelns und kritischer Intervention sein und wenn ja, kann sie dies Ihrer Ansicht nach auch heute sein? Wie müsste sie sich ggf. hierfür verändern?

Jürgen Schutte: Natürlich muss die Universität ein Ort politischen Handelns und kritischer Intervention sein!

Das war auch die Intention der Studierenden, und sie konnten im Berliner Hochschulgesetz von 1969 einige ihrer Forderungen durchsetzen. Mit der Einführung der Drittelparität und demokratischer Gremien gruppierten sich in den Fachbereichen politische Fraktionen. Aber der Druck der Universitätsangehörigen reichte nicht lange genug aus, um diese Hochschulreform zu verteidigen und weiter auszubauen. Schon Mitte der 1970er Jahre wurde durch konservative Rückabwicklung die bestimmende Rolle der Professorenschaft in den Gremien wiederhergestellt. Berufsverbote (seit 1972) und eine rigide Personalauswahl, bei der nicht selten die „richtige“ Gesinnung abgefragt wurde, taten ein Übriges. Am vorläufigen Ende dieses Prozesses steht die fast widerstandslose Hinnahme der Bologna-Reform durch die Mehrzahl der Professoren. Sie hatte schwerwiegende Konsequenzen: die wissenschaftlichen Disziplinen und der Berufsstand der Professoren mit Ausnahme der C4-Ordinarien wurden abgewertet, Studienabschlüsse wurden entwertet. Der frühere Kulturminister Nida-Rümelin beklagt im Zuge des Bologna-Prozesses u.a. die Tendenz zur Verschulung auf breiter Front, besonders in Deutschland. „Sie zeichnet sich durch extrem lange Präsenzzeiten und wenig Spielraum für Eigenstudium aus. Und es gibt die Tendenz, dass sich die Lehre von der aktuellen Forschung abkoppelt. Verschulung heißt ja immer auch, dass kanonisches, verfestigtes, in spezifischen Lehrbüchern dargelegtes Wissen vermittelt wird.“ Ohne das Thema hier zu vertiefen, wird an diesem kurzen Zitat deutlich, wie wichtig Interessenvertretung an den Universitäten nach wie vor ist.

undercurrents: An die 1968er wird häufig unter dem Blickwinkel der damaligen Studierendenrevolte erinnert. Wie haben Sie mögliche Formen der Solidarisierung oder den Austausch mit der Arbeiter_innenbewegung wahrgenommen?

Jürgen Schutte: Natürlich gab es Solidarisierungen mit weiteren Teilen der Bevölkerung. Als Beispiel sei der Vietnamkrieg genannt. Viele empörte Bürger_innen und Organisationen haben sich den Demonstrationen gegen die US-amerikanische Aggression gegen Vietnam, Laos und Kambodscha angeschlossen.

undercurrents: Sie sind seit den 1970er Jahren aktives Mitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). In einem Beitrag zum Verhältnis von Gewerkschaften und Friedensbewegung haben Sie 1985 bereits davor gewarnt, dass die von CDU und FDP geplante Novellierung des Hochschulrahmengesetzes und die damit einhergehende ökonomische Flexibilisierung der Universitäten in „unternehmerischer Regie“ die Möglichkeit kritischer Wissenschaft erschweren wird. Wie wurde dieser Umstand damals unter Kolleg_innen diskutiert? Hätte es aus Ihrer Perspektive konkrete Möglichkeiten gegeben, diesen wohl inzwischen weit fortgeschrittenen Prozess aufzuhalten? Wo sehen Sie Versäumnisse kritischer Wissenschaftler_innen, wo welche der Gewerkschaften?

Jürgen Schutte: Der wichtigste kollektive Arbeitszusammenhang außerhalb der Universität war für mich der „Fachgruppenausschuss Hochschulen“ der GEW. Hier trafen sich die Hochschulvertreter der GEW aus allen Bundesländern. Wir bearbeiteten das breite Feld der Hochschulpolitik: Strukturfragen, Tarifverträge, Personalstruktur, Studienreform, Wissenschaftspolitik u.v.a.m. Seit der Verabschiedung der bildungspolitischen Grundsätze des DGB (1982) bestand die Aussicht, dass die Organisationen der Beschäftigten sich stärker in die Bildungspolitik einmischten. Die Wirksamkeit blieb leider begrenzt, weil die Bildungspolitik innerhalb der anderen DGB-Gewerkschaften einen geringen Stellenwert hatte.

Was ich auf dem Friedenskongress der GEW 1985 in Göttingen gesagt habe, gilt auch heute noch und generell, d.h. über die Friedensfrage hinaus:

„Beide Teile, Gewerkschaften wie Friedensbewegung, wären erst einmal aufgefordert, die jeweils eigene, aus der Tradition des politischen Handelns entstandene Auffassung und Verhaltensform so offen und erkennbar wie möglich in der Öffentlichkeit darzustellen, gegebenenfalls auch kritisch zu hinterfragen und immer wieder auch dem jeweiligen Handlungspartner nahezubringen. Die immer wieder zutage tretenden Probleme lassen sich nicht durch einfachen Appell beseitigen; wir sind im Interesse der gemeinsamen Sache aufgefordert, das Zusammengehen als einen beiderseitigen Lernprozeß zu organisieren, bei dem zunächst nicht mehr – aber auch nicht weniger – gefordert ist als Respekt vor dem Anderen.“

Die mit dem Regierungswechsel 1982 von der SPD zur CDU (Kohl) eingeleitete neoliberale ‚Wende’ bedeutete auch für die Hochschule eine Unterordnung unter ökonomische Interessen. Diese Politik wird weiter verfolgt: Private Institute, Stiftungsprofessuren und eine marktgerechte Drittmittelpolitik formen die Wissenschaft zu einer Agentur der Großkonzerne. Kritische Wissenschaften erfahren spürbare Begrenzungen. Die undemokratische Entwicklung, vor der ich in dieser GEW-Rede seinerzeit gewarnt habe, ist in vollem Umfang eingetreten. Die kritischen Gruppierungen an den Universitäten und in den Gewerkschaften und in der Gesellschaft waren insgesamt nicht stark genug, diese neoliberale Entwicklung durch ausreichend starken Gegendruck aufzuhalten.

undercurrents: Gerade ist im Verbrecherverlag der von Ihnen, Axel Hauff und Stefan Nadolny erstellte Registerband zu Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands erschienen. Weiss’ Ästhetik diskutiert eine in der Auseinandersetzung mit Kunst erreichte Möglichkeit antifaschistischen Widerstands. Es treten historisch authentische Personen, z. B. Mitglieder der „Roten Kapelle“ und Künstler_innen auf, über die Weiss zuvor akribisch recherchiert hatte. Der Registerband führt alle in Weiss’ großangelegtem Roman genannten Künstler_innen und Kunstwerke in einem umfassenden Verzeichnis auf. Die Bedeutsamkeit der Kunst für das politische Anliegen des Romans und sein Geschichtsbewusstsein wird mit einer solchen Informationsbeigabe auch zur Lektüreherausforderung für Leser_innen, die darin besteht, die Ästhetik des Widerstands im Hinblick auf das Dokumentarische in ihr zu durchdringen. Wie verhält sich diese Herausforderung zu sich derzeit radikal verändernden und beschleunigenden Lektürepraxen? Kann eine solche Durchdringung eines literarischen Werks auch vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen (Aufstieg der Neuen Rechten in Europa) antifaschistische Kämpfe unterstützen? 

Jürgen Schutte: Peter Weiss hat einen modernen Roman geschrieben. Der epische Zusammenhang wird häufig durchbrochen: perspektivische Wechsel, Montagen, Verfremdungen und Engführungen, Anspielungen. Die Illusion wird nachhaltig gestört. Der Romantext erscheint so kompliziert, so abstrakt und disparat wie die moderne Welt. Ein solcher moderner Text gibt seinen gesellschaftlichen Gehalt nicht ohne weiteres her; er braucht die sinnproduzierende Tätigkeit des Lesers, der Leserin; gefordert ist eine beobachtende, informierte, kritische Haltung, ein Hin und Her zwischen der Darstellung und dem eigenen Urteil. Wer sich auf diese Herausforderungen einlassen will, allein oder durch Lesegruppen, wird belohnt durch ein nachhaltiges Lesevergnügen und einen Erkenntnisgewinn, der anders nicht zu haben ist. Diesen produktiven Leseprozess wollte ich durch das Register unterstützen und damit zur Lektüre des Romans einladen. Eine durch solche Lektürearbeit entwickelte Haltung stärkt nach meiner Überzeugung auch den Kampf gegen rechte Bewegungen. 

undercurrents: Sie haben 2003 in Ihrer Abschiedsvorlesung an der FU Berlin die Frage nach dem Gebrauchswert der Literatur wieder aufgegriffen. Ist Peter Weiss zur Beantwortung dieser Frage für Sie noch ein Bezugspunkt? Wie würden Sie diese vor dem Hintergrund der heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse und in Bezug auf den aktuellen Literaturbetrieb beantworten?

Jürgen Schutte: Selbstverständlich hat der Roman von Peter Weiss für unsere bedrohte Demokratie einen hohen Gebrauchswert. Die katastrophale Niederlage der Arbeiterbewegung im Kampf gegen Faschismus und Krieg wird so geschildert, dass wir uns in der Lektüre ein eigenes Bild dieses historischen Geschehens erarbeiten müssen. Es werden keine Lösungen angeboten, sondern verschiedene Perspektiven aufgezeigt. Der Roman thematisiert immer wieder die Schwierigkeit, die unfassbare Situation zu erkennen und die Politik der handelnden Kräfte zu beurteilen. Das Leben unter dem Faschismus ist eigentlich unlebbar. Der Erzähler und seine Freunde Coppi und Heilmann entwickeln eine Methode, durch die Aneignung von Kunstwerken die Kraft zum Widerstehen zu konsolidieren. Der in diesem Zusammenhang oft gebrauchte Begriff „widerständige Kunst“ scheint mir bei der Beurteilung dieses Vorgangs eher irreführend. Die herrschende Kultur ist immer die Kultur der Herrschenden. Nicht sie ist widerständig, sondern die Anstrengung, ihr einen für die Unterdrückten nützlichen Sinn abzugewinnen. Diese Anstrengung befähigt die Antifaschisten dazu, wie es einmal heißt, „die Fahrt nach Spanien anzutreten“, um dort die Republik gegen den faschistischen Putsch der Generäle zu verteidigen. An der Kunst werden Widersprüche sichtbar gemacht; diese Widersprüche werden nicht aufgelöst, sondern nach ihrer Bedeutung für die Gegenwart der Rezipienten befragt.

 

Schutte 1973: Jürgen Schutte: Schympf red. Frühformen bürgerlicher Agitation in Thomas Murners Großem Lutherischen Narren (1522). Stuttgart: Metzler.