Der englische Begriff Care wird im Wissenschaftsbetrieb sowie in neuen sozialen Bewegungen als Sammelbegriff für verschiedene Praktiken der Sorge gebraucht, etwa Fürsorge, Selbstsorge, Sorgearbeit, Hausarbeit, Pflege, Betreuung. Die theoretische Auseinandersetzung zu Care wurde von marxistischen Feministinnen wie bspw. Silvia Federici, Karin Hausen, Gisela Bock und Barbara Duden in den 1970er Jahren angestoßen. In ihren historischen und gegenwartsempirischen Studien zu den vielfältigen Zusammenhängen patriarchaler und kapitalistischer Herrschaft stützten sie sich nicht auf die Begriffe Care oder Sorgearbeit, sondern auf Konzepte von Reproduktions-, Haus- und Familienarbeit. Insbesondere der Begriff Reproduktionsarbeit diente dazu, den ‚blinden Fleck‘ der vergeschlechtlichten Dimension von Arbeit in der Marx’schen Kapitalanalyse aufzudecken. Aktuelle Statistiken zeigen, dass Care-Arbeit weltweit nach wie vor ungleich zulasten von Frauen* verteilt ist, die im Privaten weiterhin den Löwinnenanteil unbezahlter Sorgearbeit leisten. Care-Arbeit als Lohnarbeit – etwa im Pflegesektor oder in der Reinigungsbranche – ist oftmals schlecht bezahlt; die prekärsten und körperlich wie emotional anstrengendsten Tätigkeiten, z.B. die 24h-Pflege, sind nicht nur von vergeschlechtlichten, sondern auch von rassistischen Ausbeutungsverhältnissen geprägt.

Insbesondere in der sozialwissenschaftlichen Geschlechterforschung, aber auch in der politischen Philosophie und den Gesundheits- und Pflegewissenschaften lässt sich ein anhaltendes Forschungsinteresse am Thema erkennen. Diese Forschungszweige nutzen den Care-Begriff dazu, sowohl entlohnte als auch nicht-entlohnte Tätigkeiten in diesem Feld auf ihre Inhalte, Kontexte und Praktiken hin zu untersuchen. Beispielsweise perspektivieren sie anhaltende weltweite Krisen als Sorgearbeitskrisen, interessieren sich jedoch auch für die im Care-Begriff angelegte Doppelbedeutung von Sorge als Sorge um sich – etwa im Kontext neoliberaler Ansprüche ans Selbst in Form eines permanenten Selbstoptimierungsdrucks – und als Sorge als Fürsorge, also die Sorge um andere.

In der deutschsprachigen Literaturwissenschaft scheint demgegenüber bislang – von wenigen Studien abgesehen – kein größeres Forschungsinteresse am Themenbereich Care zu bestehen. Das ist erstaunlich, denn die Literaturwissenschaft vermag hier einen Beitrag von interdisziplinärer und politischer Relevanz zu leisten. Gerade literarische Texte unterschiedlicher Epochen bieten einen Ansatzpunkt, um die Forschung mit Blick auf kulturelle Konzepte und Erzählungen voranzutreiben, denn sie sind Orte der tropischen, narrativen und poetischen Rede von Sorgearbeit, der Reflexion grundlegender historischer Veränderungen der Praktiken und Leitbilder der Sorge sowie der Erprobung von anderen Möglichkeiten der Care-Arbeit. Beim Blick auf die Kinder- und Jugendliteratur, auf (Wiegen-)Lieder, Sprachspiele und Rätsel, aber auch auf das Vorlesen für ältere Menschen wird zudem die Integration von Literatur in Care-Praktiken evident.

Der im Bereich der literaturwissenschaftlichen Thematisierung von Care bestehenden Forschungslücke wollen wir uns im Rahmen eines Workshops in Kooperation mit dem Literaturforum im Brecht-Haus widmen und damit sowohl die wissenschaftliche als auch die politische Debatte über Care-Arbeit um einen genuin literaturwissenschaftlichen Fokus erweitern. Im Sinne einer ersten Erkundung wollen wir das Themenfeld in seiner ganzen Bandbreite beleuchten: Inwiefern adressiert und organisiert Literatur das Phänomen Sorge und spezifische Care-Arbeit(en)? Wie wird von Sorgearbeit erzählt oder wie wird sie in Erzählungen ausgeblendet? Welche Aspekte treten durch eine care-spezifische literaturwissenschaftliche Fokussierung in den Vordergrund? Die Beiträge können entsprechende Schwerpunkte sowohl auf motivischer Ebene setzen als auch hinsichtlich narrativer und rhetorischer Strategien. Beiträge zu poetologischen Konzeptionen oder praxeologischen Aspekten sind ebenfalls erwünscht.

Einen besonderen Schwerpunkt möchten wir auf den Aspekt der Fürsorge legen, von dort aus und im Verhältnis zu diesem Aspekt aber auch die Mehrfachbedeutung des Begriffs der Sorge reflektieren, also bspw. im Sinne der Vorsorge im Hinblick auf die Zukunft und der Selbstsorge als Sorge um sich. Historisch legt ein erster Blick auf relevante Texte eine Fokussierung des Themas auf die Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts nahe. Daneben interessiert uns aber auch, ob/wie Care-Arbeit etwa in literarischen Texten der Frühen Neuzeit oder des 19. Jahrhunderts verhandelt wird.

Weiterführende Fragen könnten beispielsweise sein:

  • Von welchen Akteur*innen und Institutionen der Sorge-/Care-Arbeit erzählt Literatur? Wer oder was sind die Adressat*innen von (literarisierter) Care-Arbeit?

  • Findet sich in der Literatur eine Darstellung und Kritik der herrschaftsförmigen Verhältnisse der Care-Arbeit – und finden sich darüber hinaus vielleicht sogar utopische Perspektiven auf Care?

  • Wie sehen Schreibpraktiken aus, in denen Care-Arbeit thematisiert wird? Inwiefern lassen sich literarische Texte (z.B. der Kinderliteratur) selbst als Teil von Care-Praktiken beschreiben?

  • Gibt es Affinitäten zwischen bestimmten Gattungen und Care in der Literatur? Inwiefern müssen diese selbst wieder als vergeschlechtlichte Gattungskonventionen und -beurteilungen verstanden werden?

  • Welche Verbindungen von Care-Arbeit und Literaturwissenschaft lassen sich konstatieren? Wie wird in der Wissenschaft mit Zwängen umgegangen, die durch Care-Verflechtungen entstehen können?

 Wir laden ein, Beitragsvorschläge für den Workshop einzureichen. Abstracts im Umfang von maximal einer Seite können bis zum 15. November 2021 an unsere Emailadresse gerichtet werden: undercurrentsforum@gmx.de. Die fertigen Beiträge sollten eine Länge von 3.000 Wörtern nicht überschreiten und sind bis zum 15. Februar 2022 an die Redaktion zu übermitteln, um sie vorab allen Workshop-Teilnehmer*innen als Diskussionsgrundlage zur Verfügung zu stellen. Eine kurze Präsentation von bis zu 15 Minuten, die die zentralen Punkte des Beitrags diskutiert, soll in die Textdiskussion einführen.

Die Beiträge werden in Undercurrents – Forum für linke Literaturwissenschaft publiziert. Die Redaktion behält sich eine Auswahl aus den Texten vor.