Der linken Jubiläen sind 2018 viele — Marx-Geburtstag, Novemberrevolution und das im Moment wohl meist diskutierte und erinnerte Datum: 1968. Letzterem wird sich auch unsere neue Ausgabe widmen, indem sie die nachträgliche Rekonstruktion von ‚1968‘ kritisch in den Blick nimmt. Nach einer Fülle an Publikationen, Besprechungen, Anekdoten und Reflexionen zum Thema 1968 im Jubiläumsjahr, erscheint es uns gewinnbringend, die Konstruktion des Jubiläums selbst in den Blick zu nehmen. Durch die Frage danach, welche Gruppen seitens der mit diesem Datum verknüpften Großerzählung marginalisiert wurden und werden,  soll zugleich eine Neuperspektivierung des Jahres 1968 möglich werden.

Schließlich stand und steht in den Erzählungen von 1968 (bisher) zumeist eine Personen- und Ereignisgeschichte im Vordergrund, die sich um weiße, gebildete Männer dreht, die später  Machtpositionen in Politik und Gesellschaft erreicht haben. Ihnen schreibt vor allem der bundesdeutsche Diskurs üblicherweise zu, westliche Gesellschaften liberalisiert zu haben.

Eine linke Kritik des ‚Ereignisses 1968‘ sollte jedoch auch in Rechnung stellen, dass jene letztlich bürgerlich-liberale Erfolgsgeschichte heute selbst seitens eines erschreckend durchsetzungsfähigen rechten Diskurses immer mehr unter Beschuss steht. Paradoxerweise genau in dem Moment, in dem die Protagonist_innen jener rechten Hetze sich verstärkt genuin linke Strategien und Ästhetiken aneignen. ‚1968‘ gilt es also, bei allem berechtigten Misstrauen gegenüber den Taten bedeutender Männer, nicht als erinnerungspolitische Großerzählung zu relativieren, sondern deren emanzipatorisch-utopisches Pathos gegen den allzu lauten Aufruf zur „konservativen Revolution“ (Alexander Dobrindt, CSU) zu verteidigen.

Deshalb sollte 1968 nicht verabschiedet, sondern dessen emanzipatorisches Potenzial auch für andere Gruppen als weiße deutsche oder westliche Männer erinnerungspolitisch fruchtbar gemacht werden. Auch wenn der Diskurs hierzulande und auch die bundesdeutsche Literaturwissenschaft im Speziellen diesbezüglich wenig Anstrengungen unternommen haben, lässt sich 1968 nämlich durchaus als globales, feministisches und postkoloniales Ereignis erzählen — und nicht nur als Revolte männlicher Studierender. So ist das Jahr 1968 in den USA verknüpft mit der beginnenden Women’s Liberation und dem Civil Rights Movement. Auch die westlichen Kolonialkriege in Algerien und Vietnam entzündeten 1968 genauso wie die politische Situation im Senegal oder im Iran.

Entsprechend gibt es durchaus Stimmen, die den bundesdeutschen 1968er-Diskurs antinational und weltliterarisch unterwandert haben, wie etwa Uwe Timms Roman Morenga, der sich mit dem genozidalen deutschen Kolonialismus im heutigen Namibia beschäftigt. Aber auch Geschichten von (migrantisch-)proletarischen Streiks, die bei aller derzeitigen Begeisterung für studentische Kapital-Lesezirkel höchstens randständig thematisiert werden, wären zu entdecken. Publikationen wie der von Bernd Gehrke und Gerd-Rainer Horn herausgegebene Band 1968 und die Arbeiter und Alte Linke – Neue Linke? von Peter Birke, Bernd Hüttner und Gottfried Oy bieten dazu Ansatzpunkte. Sie nehmen soziale Kämpfe jenseits der Vorstellung von 1968 als reinem Elitenereignis in den Blick, das nur erneut die Faszination für Figuren wie Rudi Dutschke oder Peter Gente anfacht und die Literatur von sogenannten ‚Gastarbeiter*innen‘ weiterhin marginalisiert.

Wie obige Beispiele zeigen, müsste mit dieser Neuperspektivierung von 1968 auch das Verhältnis von Arbeitsteilung und Deutungsmacht hinterfragt werden, das jene Konstellationen grundiert (und welches etwa in Elena Ferrantes Neapolitanischen Saga (2011-2014) intrikat reflektiert wird): Sowohl vergeschlechtlichte Arbeitsteilung als auch die Unterscheidung zwischen ‚geistiger‘ und ‚körperlicher‘ Arbeit implizieren schließlich stets bestimmte Wertigkeiten, die am Ende die Aufmerksamkeit meist auf die vermeintlich wichtigeren theoretischen Diskussionen lenken. Auch in dieser Hinsicht gälte es 1968 weniger als intellektuelles, denn als durch unterschiedliche Praxen konstituiertes Ereignis zu beschreiben an denen möglicherweise Studierende wie Arbeiter_innen gleichermaßen Teil hatten.

Die Redaktion bittet bis zum 01. September 2018 um Vorschläge für Beiträge zum Thema (Abstracts für z.B. Aufsätze, Essays, Interviews, Rezensionen, Polemiken) an unsere E-Mailadresse: undercurrentsforum@gmx.de. Die ausgewählten Beiträge, die eine Länge von 3000 Wörtern nicht überschreiten sollen, sind dann bis zum 15. Oktober 2018 an die Redaktion zu schicken. Die Redaktion behält sich eine Auswahl aus den eingesandten Texten vor.

Undercurrents – Forum für linke Literaturwissenschaft fragt nach dem Verhältnis von Literatur, Literaturwissenschaft und emanzipatorischen Bewegungen. Der Blog versteht sich als Debattenforum für linke Literaturwissenschaftler_innen und Interessierte. Mit Schwerpunktthemen wollen wir in regelmäβigen Abständen (ca. alle 6 Monate) Diskussionsanstöβe liefern.

Redaktion Undercurrents, Berlin/New York, Juli 2018