Klasse und Literaturwissenschaft: Ein Interview mit Eva Blome und Patrick Eiden-Offe


Eva Blome ist Assistentin am Fachbereich Literaturwissenschaft der Universität Konstanz. Patrick Eiden- Offe ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in Germanistik an der Universität Duisburg-Essen. Gemeinsam mit Manfred Weinberg sind sie Autor_innen des sehr lesenswerten Aufsatzes „Klassen-Bildung: ein Problemaufriss,“ der in Internationales Archiv für die Sozialgeschichte der deutschen Literatur (Jg. 35 (2010), Nr. 2, 158-194) erschienen ist. Im Herbst 2012 haben sie zu einigen Fragen von Undercurrents ausführlich Stellung genommen.


  1. Intersektionalität


    Undercurrents: Forschungen zum Zusammenhang von Herrschaftsverhältnissen, etwa Rassismus und Geschlechterherrschaft, sind gegenwärtig recht verbreitet. Wie erklärt ihr, dass Klassenherrschaft derzeit kaum eine Rolle spielt?


    Patrick: Ich würde zunächst einmal zwei verschiedene Verwendungsweisen von Klasse unterscheiden: Einmal als Kategorie, die eine bestimmte Form von sozialer und/oder politischer Hierarchisierung, Diskriminierung, Ungleichbehandlung beschreibt. Wenn man Klasse in diesem Sinn verwendet, ist es sinnvoll, von „Klassenherrschaft“ neben „Rassismus“ und

    „Geschlechterherrschaft“ zu sprechen. Für diese Verwendungsweise hat sich der Begriff

    „Klassismus“ eingebürgert (auch wenn das Word-Rechtschreibprogramm ihn noch nicht kennt, wie ich gerade merke); in diesem Sinn kann man dann auch class im Mantra von raceclassgender verstehen, oder im Deutschen: „Schicht“, Milieu, „soziale Ungleichheit“ oder ähnliches. In diesem Sinn interessiert mich Klasse wissenschaftlich und politisch nicht so sehr, wenn auch lebenspraktisch oder biografisch, also eher in der Kneipe. Zur zweiten Verwendungsweise siehe Frage A3.


    Eva: In der sozialwissenschaftlich ausgerichteten Intersektionalitätsforschung, die sich nicht auf die Analyse der ‚triple oppression’ aufgrund von race/class/gender beschränken lässt (vgl. z.B. S.Smykalla/D. Vinz (Hg.): Intersektionalität zwischen Gender und Diversity – Theorien, Methoden und Politiken der Chancengleichheit. Münster 2012), steht die interdependente Verschränkung diverser Herrschaftsverhältnisse im Fokus der Analysen. Die Verabschiedung der These vom

    ‚Kapitalismus als Hauptwiderspruch’ hat sicherlich nicht dazu geführt, dass auch in diesem Zusammenhang Klassenherrschaft kein Thema mehr sei. Und auch in der empirischen Sozialforschung hat Klassenherrschaft/Klassismus durchaus Konjunktur, etwa im Kontext der Untersuchung des Zusammenhangs von Bildungschancen und sozialer Ungleichheit/Milieuzugehörigkeit. Hier wird jedoch tatsächlich zumeist nicht von „Klasse“ gesprochen, und wenn doch so im Sinne einer heuristisch gebrauchten Analysekategorie, die sozio- ökonomische Ungleichheitsverhältnisse, die überhaupt erst noch (empirisch) aufzuklären sind, adressiert. Kritikabel finde ich das nicht. Herausfordernd finde ich allerdings die Frage, inwiefern sich zwischen einem so verstandenen Klassenbegriffs und dem in der Antwort auf Frage A 3 skizzierten Klassenbegriff trotz – oder besser gerade wegen – aller notwendigen begrifflichen Schärfung und Ausdifferenzierung bestimmte Konvergenzen beobachten lassen.


    Undercurrents: Neben den Forschungen zu Geschlecht oder Ethnizität gibt es im Bereich der Politik seit einiger Zeit auch ‚gender mainstreaming‘. Gibt es oder warum gibt es kein ‚class mainstreaming‘?


    Eva: Gender Mainstreaming ist eine integrative top-down-Strategie, die seit Mitte der 1990er Jahre in der Politik, der öffentlichen Verwaltung und in anderen Institutionen zum Einsatz kommt und deren Ziel die Erreichung der tatsächlichen Chancengleichheit von Männern und Frauen ist. Dabei geht es darum, dass sämtliche an Entscheidungsfindungsprozessen beteiligte Akteur_*innen in allen Konzeptions- und Umsetzungsphasen prüfen, wie in dem jeweils betroffenen Bereich die Geschlechterverteilung aussieht und inwiefern Männer und Frauen aufgrund ihrer Lebenslagen von den geplanten Maßnahmen unterschiedlich betroffen sein könnten. Wenn es in vergleichbarem und ähnlich stark institutionalisiertem Umfang bisher kein ‚Class Mainstreaming‘ gibt, so hat dies sicherlich etwas damit zu tun, dass Gender Mainstreaming eine Strategie ist, die auf der Grundlage von Statistik funktioniert, konkret: auf der Grundlage von Zahlenmaterial zum Anteil und zu den Lebens- und Arbeitsverhältnissen von Männer und Frauen in diversen Kontexten und Bereichen,

    z.B. in den verschiedenen Statusgruppen oder Disziplinen an Hochschulen. Diese Datenbasis birgt jedoch das Manko, dass von der Tendenz her zwar nach Männern und Frauen unterschieden wird, Differenzkategorien wie sexuelle Orientierung oder Transidentitäten, Intersexualität etc. beim Gender Mainstreaming jedoch keine Berücksichtigung finden. Damit operiert GM auf der Annahme eines Geschlechterdualismus‘ und trägt selbst zu dessen Reproduktion bei.

    Klassenzugehörigkeit oder Schichtzugehörigkeit erscheint im politischen Kontext nun viel weniger eindeutig und damit quantifizierbar als Geschlechtszugehörigkeit (was allerdings nicht unbedingt stimmen muss) und „Class Mainstreaming“ schon insofern fragwürdig. Allerdings möchte ich angesichts konzeptioneller und (geschlechter)theoretischer Vorbehalten gegenüber GM sowieso zu bedenken geben, ob ein ‚Class Mainstreaming‘ nach dem Vorbild von GM überhaupt sinnvoll und wünschenswert wäre. Was nicht bedeutet, dass ich der Meinung bin, dass bestehenden gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnissen in institutionellen und politischen Zusammenhängen nicht viel mehr Beachtung geschenkt werden sollte. Ein wichtiges Anliegen ist es daher, insbesondere den bottum-up-Bewegungen, die (eine bestimmte) „class“ oder „Klasse“ für sich in Anspruch nehmen mögen (wie im hochschulpolitischen Kontext beispielsweise die Initiative Arbeiterkind.de) zu mehr Durchschlagskraft zu verhelfen.


    Undercurrents: Klasse ist nicht der einzige Begriff mit dem sich Stratifikationen und Identitätskonstruktionen entlang sozioökonomischer Positionen beschreiben lassen. Worin liegt die Relevanz und der Unterschied der Klassenkategorie in der Literaturwissenschaft gegenüber Begriffen wie ‚Schicht‘ oder ‚Reichtum/Armut‘?


    Patrick: Die Kategorie „Klasse“ spricht die Frage sozioökonomischer Reproduktion an; zentrales Stichwort ist hier Proletarisierung: Ist man zur Lohnarbeit (in welcher Form auch immer) genötigt oder nicht? Darüber hinaus ist Klasse in dieser Verwendungsweise eine politische Kategorie, bzw. genauer: Klasse spricht die politische Aktivierung der ökonomischen Unterscheidung [proletarisiert ja/nein] an. In diesem Sinn ist es eine historische Kategorie, die im 19. Jahrhundert aufkam und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominant wurde. Dabei wird Klasse auch zu einer Kategorie

    der Identität. Leute identifizieren sich politisch mit ihrer Reproduktionsweise und machen diese zum Ausgangspunkt ihres politischen Kampfes um Emanzipation: aus den Proletarisierten wird die Arbeiterklasse.

    In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis heute tritt diese Verwendung – abgesehen von neulinken Milieus – eher zurück. Wenn in der BRD von einem Verschwinden der Klassengesellschaft geredet wurde, ist das insofern richtig, als das Proletariat zunehmend integriert wurde und sich nicht mehr als politische Kraft konstituiert hat, die die ganze Gesellschaft umwerfen wollte. In diesem Sinn würde ich für die Gegenwart in den entwickelten Zonen von einer

    „klassenlosen Klassengesellschaft“ sprechen: „überall proletarisierte Individuen, nirgends das Proletariat“ (Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft, „28 Thesen zur Klassengesellschaft“, in: Kosmoprolet 1, Berlin 2007, S. 11).

    Für die Literaturwissenschaft ist das alles als historisch-philologisches Material interessant. Die Unterscheidung [proletarisiert ja/nein] kann sich übrigens durchaus mit der von arm und reich überkreuzen: Im 19. Jahrhundert war es lange umstritten, ob sich das Proletariat als politische Kraft durch seine Armut oder durch seine Arbeitskraft definiert. Erstere Richtung kommt aus dem französischen Neobabouvismus der 1830er Jahre (Blanqui et.) und findet in der deutschsprachigen Literatur u.a. Niederschlag bei Büchner und Heine, obwohl letzterer dann doch eher zur Variante Arbeitskraft tendiert, die aus dem Saint-Simonismus kommt und dann über Marx kanonisiert wird. Die in der Geschichte der Arbeiterbewegung lange persistierende Differenz zwischen Anarchismus und Marxismus hat hier ihre Wurzel.


  2. Klassen und Literaturwissenschaften


    Undercurrents: Was wäre ein möglicher Beitrag der Literaturwissenschaften zur Klassen-Theorie?


    Patrick: Ich würde den Beitrag vor allem in der historisch-philologischen Arbeit sehen: Literaturwissenschaft kann z.B. einerseits untersuchen, wie sich das soziale Phänomen der Klassendifferenz in literarischen Werken niederschlägt, in denen man es auf der Oberfläche nicht wahrnimmt. Anderseits kann man mit literatur- und kulturwissenschaftlichen Methoden untersuchen, wie sich historisch Identitätskonstruktionen entlang der proletarischen Differenz vollziehen: Über welche Wege wird aus der Vielzahl proletarisierter Individuen das Proletariat? Zur Frage der literarischen Identifizierungswerkzeuge siehe Frage C3. Im französischen Post- Marxismus/Post-Althusserianismus der letzten 30 Jahre (Balibar, Rancière, Badiou, aber auch bei Zizek) hat sich eingebürgert, das Proletariat als „Namen einer irreduziblen Differenz“ zu lesen, als Identität, die sich nicht nur über eine, sondern als Spaltung konstituiert etc. Das lässt sich durch literaturwissenschaftliche Forschungen mit historisch-philologischem Kleingeld überprüfen bzw. auszahlen.


    Undercurrents: Auf welchen Gegenstandsbereich können sich Forschungen zu Klassenverhältnissen in der Literatur beziehen? Gibt es z.B. besonders interessante Formen und Genres wie Realismus oder Alternativweltenliteratur?


    Eva: Sicherlich sind die Literaturen des 19. Jahrhunderts – wenn man so möchte: des Jahrhunderts der Klassen-Bildung – ein besonders aufschlussreiches Material, wenn es darum geht, literarische

    Beiträge zur Klassenfrage zu identifizieren. Fruchtbarer als hier einzelne Strömungen oder Genres, wie etwa den Realismus, die Vormärz-Literatur oder die Literatur der Arbeiterbewegung, hervorzuheben, erscheint es mir die Wechselwirkungen, Überlappungen und gegenseitigen Anziehungs- wie Abstoßungsdynamiken zwischen den verschiedenen literarischen Kontexten und ihrer jeweiligen Auseinandersetzung mit der Klassen-Frage in den Blick zu nehmen (mehr dazu unter C3). So interessiere ich mich zum Beispiel derzeit besonders für die Figuration von Klassenverhältnissen innerhalb der epochenübergreifenden Bildungsromantradition – und für die Frage, wie deren Verhältnis zu (Vorgänger-)Texten aus nicht-bürgerlichen Federn zu beschreiben ist. An den kanonisierten Bildungsromanen von Autoren wie Goethe oder Stifter (Wilhelm Meisters Lehrjahre, 1795/96; Der Nachsommer, 1857), die sicherlich nicht im Verdacht stehen, programmatische Texte des Klassenkampfes zu sein, sind für mich dabei besonders die narrativen Seitenstränge und marginalen Figuren aufschlussreich, die nicht dem klassischen Figurenrepertoire des Bildungsbürgertums entstammen, diesem aber zuallererst Kontur verleihen. Die Auseinandersetzung mit diesen bietet m.E. nämlich Ansatzpunkt, die Bildungsromane gegen den Strich zu lesen und sichtbar zu machen, wovon sie eben letztlich auch erzählen: etwa davon, dass die Funktionsweise der Klassengesellschaft mit der neuhumanistischen Idee einer individuellen, universellen Bildung und der Erzählung vom sozialen Aufstieg qua Bildung in einem ambivalenten Verhältnis steht (mehr dazu auch noch unter C1).

    Und noch zum Stichwort Alternativweltenliteratur: In Verkennung und Umkehrung der mit diesem Begriff wahrscheinlich eigentlich adressierten Utopien einer klassenfreien Gesellschaft, lässt sich etwa auch Stifters Nachsommer-Roman – und hierin sehe ich eine der interessanten Allianzen zwischen eigentlich ganz verschiedenen Genres – als Versuch lesen, mit narrativen Mitteln eine alternative Welt zu den zeitgenössischen Klassenkämpfe zu errichten, die den bildungsbürgerlichen Autor und Schulinspektor Stifter schon aufgrund ihres unästhetischen Charakters abschreckten. Dass der literarische Text, wie ich bereits angedeutet habe, daran scheitert, sich gegenüber diesen hermetisch abzuriegeln, kann als Hinweis darauf gewertet werden, dass individuelle Bildungsbiografien sich nicht ohne Rekurs auf die Klassenfrage verhandeln lassen.


  3. Jargon der Philologie


    Undercurrents: Die Lektüre bestimmter Literatur spielt eine nicht unbedeutende Rolle für die bürgerliche Subjektivierung und kulturelle Distinktion. Worin liegt die Relevanz der Kategorie der Klasse für die Rezeption von Literatur?


    Eva: Interessant ist für mich, wie innerhalb der literarischen Texte von der Literatur als Medium des Klassenaufstiegs bzw. als (bürgerliches) Distinktionsmittel – aber eben auch als Mittel der Emanzipation – die Rede ist. Hier könnte z.B. Karl Philipp Moritz so genannter Anti- Bildungsroman Anton Reiser angeführt werden. Dieser schildert – nebenbei gesagt: in einer frühen Variante realistischer Erzählverfahren – diejenigen sozialen und individual-psychologischen Effekt, die sich für den aus proletarischen Verhältnissen stammenden Titelfigur aufgrund seiner exzessiven Lektüren einstellen. Dabei fordert der Roman seine Leser_*innen als mündige Leser_*innen zu einer klassenpolitischen Positionierung heraus, indem er sie mit der Beantwortung der Frage, ob Anton Reisers immer wieder ins Prekäre kippenden Lebensverhältnisse ihre Ursache in

    gesellschaftlichen oder individuellen Fehlstellungen hat – oder in ihrem subtilen Zusammenwirken

    –, alleine lässt. Dadurch wird die Rezeptionshandlung – kurz gesagt – zu einer frühen Schulung in Klassenbewusstsein ohne einen Standpunkt vorzugeben.


    Patrick: Für mich interessanter als das Problem der Literatur als bildungsbürgerlicher Klassenmarker ist die Frage alternativer Aneignungsweisen literarischer Praktiken und Bestände durch die, die davon ausgeschlossen werden sollten: Schiller-lesende und -aufführende Handwerkerkommunisten, dichtende Arbeiter, philosophierender Pöbel – Wilhelm Weitling ist da nur die bekannteste Figur. Da gibt es noch viel zu Tage zu fördern. Literatur war hier nicht nur bürgerliches Aufstiegsversprechen, sondern auch Medium der Selbstdistanzierung, des Sich- Freischwimmens aus der Misere des eigenen Lebens, zur Imagination anderer Lebens- und Vergemeinschaftungsweisen.


    Undercurrents: Klassendifferenz (re)produziert sich in Sprachdifferenz. Wie beurteilt ihr das Verhältnis zwischen literaturwissenschaftlichen Jargons und den Klassenpositionen der Literaturwissenschaftler_innen (bzw. vice versa anderen Klassenpositionen)?


    Patrick: Da sehe ich keinen Zusammenhang. Meint „Jargon“ hier Fachsprache? Ohne eine solche ist keine Wissenschaft zu haben. Natürlich kann man gut oder schlecht schreiben, die Fachsprache fetischisieren oder mit ihr spielen, Begrenzungen nur erdulden oder produktiv nutzen. Mit Klassendifferenz hat das m.E. nichts zu tun.


    Eva: Mir scheint hier gibt es eine gewisse Unschärfe in der Formulierung der Frage: Geht die Frage davon aus, dass Literaturwissenschaftler_*innen unterschiedlichen Klassenpositionen angehören oder geht es hier um die ‚Klasse der Literaturwissenschaftler_*innen’? Sollte hier letzteres zur Diskussion stehen, so wäre vielleicht zu überlegen, inwiefern etwa Habitus im Bourdieuschen Sinn dazu beiträgt, kulturelles, symbolisches – und ja, auch ökonomisches – Kapital zu sichern und auch den personellen Zugang zum System mitzuregulieren. Dies würde ich aber zunächst einmal für den gesamten Wissenschaftsbetrieb geltend machen wollen, wobei sicherlich die Einübung einer bestimmten Performanz von Wissenschaftlichkeit hierbei eine Rolle spielt, wobei für mich zum Beispiel entscheidend ist, inwiefern sich innerhalb des Wissenschaftssystem (auch globale und transnationale) Herrschaftsverhältnisse infrage stellen lassen oder aber reproduziert werden.


    Undercurrents: Wie kann klassentheoretisch mit dem Unterschied zwischen dem, was seit dem 18. Jahrhundert ‚Literatur‘ genannt wird, und anderen Praktiken umgegangen werden, die ‚literarisch‘ genannt werden könnten (z.B. Flugblattproduktion, Manifeste, die Texte von Populärmusik etc.pp.)?


    Eva: Ich habe bereits weiter oben darauf hingewiesen, dass für mich von besonderem Interesse ist, herauszuarbeiten, in welchem Verhältnis etwa die kanonisierten Bildungsromane zu (proto-

    )autobiographischen Texten ihrer Zeit stehen, wie sich z.B. Bezüge zwischen der Lebensgeschichte des Arme Mann im Tockenburg (1789) des Schweizer Schriftstellers Ulrich Bräker, Sohn eines Bauern und Salpeterbrenners, zu den zeitgleich entstehenden Entwicklungs- und Bildungsromanen

    von Goethe oder Jean Paul herstellen lassen. Ein anderer Ansatzpunkt ist für mich, wiederum innerhalb der literarischen Texte zu untersuchen, welche Wirkungen, Verwerfungen der Produktion literarischer und nicht-literarischer Texte jenseits des bürgerlichen Büchermarkts zukommt. Die autodidaktische – sozial gefährliche – Bildung und ‚Lesesucht’ der Frauen ist hier etwa ein interessantes klassenübergreifendes Phänomen, aber auch die Frage danach, inwiefern literarische Texte ihre eigenen Quellen, die z.B. auch außerhalb Europas, in den proletarisierten Schichten oder bei versklavten Frauen zu suchen sind, offen legen oder zumindest in verschlüsselter Form preisgeben. Ebenso reflektiert die Literatur auch selbst darüber, ob etwa ein Text wie Goethes Werther von nicht-bürgerlichen Individuen anders gelesen wird als von dem Bildungsbürgertum, von dem es handelt, – und inwiefern es sich hierbei um ein ‚falsches’ oder aber subversives (Ver-

    )Lesen handelt. Dafür wäre ebenfalls Moritz’ Anton Reiser ein Beispiel.


    Patrick: In der medialen Produktion der frühen Arbeiterbewegung gibt es eine erstaunliche Elastizität in der Verwendung verschiedener Genres, Schreibweisen und literarischer Praktiken: Flugblätter in Gedicht-, Sozialanalyse in Novellenform, Experimente mit der Katechismusform, Theater- und Musikexperimente. Gerade die dissidenten Zeitschriften der 1840er Jahre, in denen sich ein Großteil der wegweisenden Theoriebildung vollzogen hat, erscheinen als Kulturwissenschaft avant la lettre, auf jeden Fall als Gegenstand, der sich für eine kulturwissenschaftliche Bearbeitung geradezu aufdrängt. In der Vergangenheit (etwa noch den 1970er Jahren) wurde diese Produktion von der Wissenschat oft erst vorsortiert – nach Genres und nach Qualität – und dann gesondert in den jeweiligen Wissenschaftssegmenten untersucht. Dabei geht verloren, dass in den Zeitschriften geldtheoretische Elaborate von Moses Hess neben Trash- Gedichten, unglaublich detaillierten autobiografischen Reporten einzelner Arbeiterinnen und statistischem Material zu stehen kommen und dass erst das alles zusammen die identitätsstiftende Funktion dieser Zeitschriften – Zeitschriftenlesekreise bildeten nicht zuletzt Organisationskerne der frühen, noch vor-gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung – gewährleistet hat.


  4. Klassenpolitik in der Literaturwissenschaft


Undercurrents: Was ist ein realer bzw. was wäre ein möglicher klassenpolitischer Beitrag der Literaturwissenschaften?


Patrick: Bei dieser Frage bin ich sehr skeptisch. In den 1990ern habe ich mich mit großer jugendlicher Begeisterung in die Systemtheorie gestürzt; ein Kernsatz hat sich mir dabei eingeprägt, der mir wahrscheinlich auch im Zusammenspiel mit meiner ländlich-proletaroiden Sozialisation immer noch sehr plausibel erscheint, auch wenn ich mit Luhmann mittlerweile nicht mehr so viel anfangen kann: Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps. Will sagen: Wissenschaft ist Wissenschaft und Politik ist Politik, und alle Versuche, beides absichtsvoll zu vermischen, bzw. die Wissenschaft zu politisieren und die Politik zu verwissenschaftlichen sind in der Vergangenheit mindestens schief gegangen. Beide Bereiche sind natürlich immer schon vermischt, aber ich würde das eher als Problem ansehen, das es zu reduzieren gilt, denn als Legitimation dafür, die Vermischung weiterzutreiben. Man kann natürlich sagen, dass das Verschwinden der marxistischen Literaturwissenschaft in den 1980er Jahren mit der gemeingesellschaftlichen Restaurationsstimmung jener Epoche zu tun hatte, und das stimmt auch bestimmt. Man kann aber

auch – gewissermaßen wissenschaftsautonom – sagen, dass in den 1980er Jahren eine Form von forcierter Politisierung der Literaturwissenschaft kollabiert ist, die letztlich Erkenntnisfortschritte eher blockiert als befördert hat. Ein anderer Lieblingsspruch von mir stammt von Diedrich Diederichsen: „Der Marxismus darf wiederkommen, wenn er verstanden hat, warum er weg war“. Und ein Grund, warum er weg war, war sicherlich der Anspruch, zu allem und jedem etwas zu sagen zu haben bzw. alles in seinem Licht ganz neu erscheinen lassen zu wollen. Wenn er das nicht mehr tut, dann kann er gern wiederkommen, bzw.: Ich helfe sehr gern, ihn wieder zurückzubringen und halte ihm alle Türen auf, derer ich habhaft werden kann.


Eva: Ich sehe das im Prinzip ähnlich und frage mich zugleich, ob hinter dieser Frage auch noch eine zweite Frage steht, diejenige danach, ob aus der Literatur für den Klassenkampf zu lernen ist? Falls dies so sein sollte, denke ich, dass es definitiv nicht die Literaturwissenschaft braucht, um eine klassenpolitische Bewegung zu forcieren. Allerdings kann die Literaturwissenschaft m.E. helfen in Auseinandersetzung mit narrativen Fassungen von Klassenverhältnissen die Funktionsweisen der Klassengesellschaft besser zu verstehen und vielleicht sogar gewisse Widersprüche, die in der Theoretisierung des Klassenbegriffs bestehen, aus der Perspektive literarischer Texte schärfer ans Licht treten zu lassen. Ob dies ein ‚realer’ Beitrag zur klassenpolitischen Auseinandersetzung ist, muss aber bezweifelt werden.

Allerdings möchte ich darauf hinweisen, dass sich die Literaturwissenschaftler_*innen ja in einem Wissenschaftsbetrieb bewegen, zumeist an Hochschulen oder Forschungsinstituten tätig sind, und dass innerhalb dieser institutionellen Strukturen natürlich Exklusionsprozesse und Diskriminierung stattfinden. Ob „Klasse“ hier die richtige Bezugsgröße ist, sei dahingestellt, entscheidend ist für mich dann erst einmal, diese Prozesse zu benennen und die eigene Tätigkeit innerhalb des Wissenschaftsbetriebs (und z.B. auch die Lehrtätigkeit) daraufhin zu hinterfragen. Das ist dann aber schon keine wissenschaftliche, sondern eine wissenschaftspolitische Intervention – und im Prinzip auch schon meine Antwort auf die folgende Frage.


Undercurrents: Inwiefern kann eine Auseinandersetzung mit Klassenverhältnissen das Selbstverständnis von Literaturwissenschaftler_innen verändern? Welche Möglichkeiten für neue politische Allianzen und Solidaritäten seht ihr, zum Beispiel vor dem Hintergrund aktueller Debatten um Prekarität?


Patrick: Dass Literatur- wie auch alle anderen Wissenschaftler_*innen sich nach Möglichkeit über ihre Arbeitsbedingungen Gedanken machen und sich vielleicht sogar autonom gewerkschaftlich organisieren sollten, kann ich nur unterstützen. Wenn sie dabei ihren jeweils egoistisch- tradeunionistischen Standpunkt hinter sich lassen und sich quer zu Segmenten und Schichtungen auch mit anderen, womöglich sogar trans- oder anational, zusammentun könnten – etwa Harzer_*innen aus dem Kiez oder Freiberufler_*innen – würde ich das nur begrüßen, und bei einer entsprechenden Bewegung würde ich auch mittun. Als Literaturwissenschaftler, der sich mit Klassenfragen im frühen 19. Jahrhundert beschäftigt, kann ich dazu beitragen, indem ich zeige, dass es genau so eine Bewegung im Vormärz schon einmal gegeben hat, wenn auch nur rudimentär, und dass diese Bewegung dann abgeräumt wurde: einerseits von der marschierenden Reaktion, andererseits von der sich borniert als Arbeiter- und nur als Arbeiterbewegung verstehenden Arbeiterbewegung. Alle weiteren Fragen der Applikation des historischen Wissens auf die

Gegenwart müssen den Bewegungen überlassen bleiben. „Ich lerne. Ich bereite vor. Ich übe mich.“ (Johannes R. Becher).