Das Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft unterstützt die aktuelle Forderung nach einem Nicht- beziehungsweise Flexi-Semester im Sommersemester 2020, wie sie in einem von fast 11.000 Wissenschaftler*innen unterzeichneten offenen Brief (https://www.nichtsemester.de/cbxpetition/offener-brief/) angestoßen wurde. Dabei erscheint uns die genaue Bezeichnung weniger relevant als die Anerkennung der Tatsache, dass in der derzeitigen Situation eines gesamtgesellschaftlichen Shutdowns auch der Betrieb an Universitäten, Hochschulen und Forschungseinrichtungen im Sommersemester 2020 nicht einfach weiterlaufen kann wie bisher. Ebenso befürworten wir den Forderungskatalog zur Corona-Krise der Hochschulgewerkschaft unter_bau  vom 21.03.2020 (https://unterbau.org/2020/03/30/gegen-unsicherheit-in-der-corona-krise/). Wir möchten die dadurch angestoßene Diskussion aufgreifen und vertiefen.    Studierende, Lehrende, Forschende wie auch technisch-administratives Personal sind von der gegenwärtigen Krisensituation auf vielfache Weise betroffen: angefangen bei der unter den Bedingungen von Pandemie und Kontaktsperre allgemein steigenden psychosozialen Verunsicherung, zu der sich die Sorge um die eigene und/oder die Gesundheit nahestehender Menschen addiert, über die drastisch intensivierte Care-Verantwortung von Eltern und Pflegenden bis hin zu ganz praktischen Fragen der Zugänglichkeit von Forschungsmaterialien und digitaler wie analoger Infrastruktur. Die Krisenförmigkeit der gegenwärtigen Situation verschärft sich unter den Bedingungen befristeter Beschäftigung, die im deutschen Hochschulsystem nach wie vor den Regelfall darstellt.   In Hinblick auf eben diese prekäre Beschäftigungssituation der übergroßen Mehrheit unserer Kolleg*innen halten wir es für unerlässlich, dass alle befristeten Arbeitsverträge von studentischen Mitarbeiter*innen und von Wissenschaftler*innen in der Promotions- und Postdoc-Phase, aber auch von so genannten sonstigen Mitarbeiter*innen um die Dauer der derzeitigen Ausnahmesituation verlängert werden, und zwar ohne Anrechnung auf die Höchstbefristungsdauer nach dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz  beziehungsweise dem Teilzeit- und Befristungsgesetz. Ebenso dringend notwendig ist die Verlängerung von Stipendien und von “Tenure”-Zeiten für Junior-Professor*innen, die Auszahlung bereits zugesagter Lehraufträge und sonstiger Honorarvereinbarungen (unabhängig von der konkreten Durchführbarkeit der Lehre) im kommenden Semester und die Unterzeichnung bereits zugesagter Arbeitsverträge. Außerdem erwarten wir die vollumfängliche Anerkennung krisenbedingter zusätzlicher Sorgearbeit (etwa Homeschooling) als Arbeitszeit. Berücksichtigt werden muss zudem, dass auf Lehrende aktuell neben der bereits äußerst anspruchsvollen Aufgabe, Lehrangebote nach Möglichkeit zu digitalisieren, auch erhöhte Betreuungsanforderungen zukommen. Aufgrund der dadurch erhöhten Arbeitszeit müssen die Honorare für Lehrbeauftragte deutlich angehoben werden.    Studierende brauchen jetzt mehr denn je flexible Unterstützungsangebote, um ihr Studium unter erschwerten Bedingungen weiter führen oder beenden zu können. Dazu gehört eine transparente und flexible Gestaltung von Prüfungsbedingungen. Das Sommersemester soll regelhaft nicht auf die Gesamtstudiendauer angerechnet werden. Wichtig ist zudem die Verfügbarkeit von Lehrmaterialien: Paywalls und Copyright-Probleme dürfen nicht den Zugang zu den dafür nötigen Unterlagen beschränken; alle technisch problemlos verfügbar zu machenden Texte müssen freigeschaltet werden.    Ohne die genannten Maßnahmen würden die ohnehin bestehenden systemischen Ungleichheiten im Hochschulsystem nur noch weiter vertieft. Darüber hinaus müssen unter den gegenwärtigen Bedingungen von Studium, Lehre und Forschung mehrdimensionale Ungleichheiten und strukturelle Diskriminierungen, insbesondere von ausländischen Student*innen und Wissenschaftler*innen Berücksichtigung finden. Zu den Problemen der Durchführung und Finanzierung des gegenwärtigen Lebensalltags kommen bei ihnen weitere existenzielle Probleme bezüglich des Aufenthaltsstatus, der Visa-Laufzeiten und der Möglichkeiten der Weiterversicherung und -beschäftigung. Es steht auch zu befürchten, dass die zusätzliche Sorgearbeit vor allem zulasten weiblicher Wissenschaftler*innen geht, die ohnehin den Großteil der Sorgearbeit schultern.   Die weitreichenden Folgen der Corona-Krise für Arbeits- und Studienalltag sind angesichts der Prekarität der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen im deutschen Mittelbau ohnehin kaum aufzufangen. Anstelle einer Fortführung des permanenten Wettbewerbs im Forschungsbetrieb, wozu beispielsweise die jüngste Ausschreibung der DFG aufruft (https://www.dfg.de/foerderung/info_wissenschaft/2020/info_wissenschaft_20_20/index.html), erfordert die Situation vielmehr ein Innehalten und Umdenken. Denn die gegenwärtige Gesundheitskrise zeigt nicht nur die weitreichenden Probleme des deutlich überlasteten Wissenschaftssystems, sie erlaubt und erfordert es auch, jetzt gegenzusteuern. Es gilt die Krise zu nutzen, um über eine Zukunft des Wissenschaftsbetriebs nach der Pandemie zu diskutieren – eine Zukunft im Sinne von Solidarität, guter Arbeit und kooperativer Erkenntnisproduktion statt weiter forciertem, wissenschafts- und beschäftigtenfeindlichem Wettbewerb.    Berlin, 1.4.2020               Tags: akademisches Prekariat, Befristung, Corona, Covid-19, frististfrust