Wir freuen uns auf Beiträge für die 14. Ausgabe von Undercurrents! Bitte schickt uns Eure Abstracts bis zum 25. November.

Wenn Literatur einen Tauschwert hat – durch ihre Produktion für den Markt – und angesichts ästhetischer Normen einen symbolischen Wert, dann muss es auch einen Gebrauchswert der Literatur geben. Der seit den 60er Jahren verwendete Begriff der Gebrauchsliteratur zielte in erster Linie auf eine Aufwertung der sogenannten Trivialliteratur und eine Erweiterung dessen, was als Literatur verstanden wird. Textformate wie Zeitungsnachrichten, politische Flugschriften, aber auch Werbung, Rezepte oder Gebrauchsanweisungen sollten nicht länger gegenüber einer Literatur herabgesetzt werden, deren vorgeblicher ästhetischer Wert sie über jeden Verwendungszusammenhang zu erheben schien. Stattdessen stand nun auch der operative Wert von Texten zur Debatte.
Eine zentrale Frage ist dabei diejenige nach dem politischen Gebrauch der Literatur. Bei marxistischen Theoretikern wie Walter Benjamin und Bertolt Brecht ist damit besonders die politische Tendenz der Literatur gemeint, von der – laut Benjamin – auch die ästhetische Qualität eines literarischen Kunstwerks abhängt. Für entscheidend hält Benjamin dabei, in welchem Maße das Werk die Bedingungen seiner Produktion selbst thematisiert. Eine Reflexion der sozialen Privilegien der Schreibenden wird damit in ungeahnter Nähe zu heutigen Antidiskriminierungsnormen zum Maßstab des Gelingens von Literatur. Freilich wäre es darüber hinaus ebenso möglich, die faktischen politischen Gebrauchsweisen in einer Perspektive zu untersuchen, die ästhetische wie ideologische Normen der politischen Aneignung selbst zum Gegenstand der Reflexion macht.
In der bisherigen Verwendung des Begriffs Gebrauchsliteratur zeichnen sich demnach zumindest zwei Verständnisweisen ab. Die Annahme, dass Literatur überhaupt einen Zweck erfülle und nicht allein als autonomes Kunstwerk zu verstehen sei, wird durch die spezifischere Frage nach dem politischen Gebrauch erweitert. Nun gibt es mindestens noch eine dritte Dimension des Gebrauchs von Literatur, welche auf ihre empirische Materialität abzielt. Inwiefern hat beispielsweise das Buch als Gegenstand einen Gebrauchswert jenseits der Lektüre? Beispielsweise die Goethe-Gesamtausgabe als Teil des bildungsbürgerlichen Mobiliars, die, ob gelesen oder nicht, dem Interieur eines Hauses den Anstrich des Gebildeten verleiht, oder die Mao-Bibel in der Hand von Demonstrant*innen, die unabhängig von ihrem Inhalt geeignet war, etwa das westdeutsche Establishment um 1968 zu provozieren. Dieser Dreidimensionalität des Begriffs soll die 14. Ausgabe von Undercurrents nachgehen, indem der Gebrauch der Literatur innerhalb ihrer operativen, politischen und materiellen Verwendungszusammenhänge untersucht wird. Undercurrents möchte mit seiner neuen Ausgabe dazu anregen, über die verschiedenen Gebrauchsweisen der Literatur nachzudenken und dazu folgende (mögliche) Fragen aufwerfen:
– In welchem Rahmen ‚brauchen‘ wir heute eine engagierte/politische Literatur? Wie sehen gegenwärtige Ästhetiken einer politischen Literatur aus?
– Wie lässt sich eine Literaturgeschichte schreiben, die Literatur von ihrem (politischen) Gebrauch bzw. von ihrem Gebrauchswert her denkt, insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Begriff der Gebrauchsliteratur sich in Abgrenzung zu einer autonomen Kunst und der Ausdifferenzierung der Systeme seit 1800 entwickelt hat (wobei die Unterscheidung zwischen autonomer und operativ eingesetzter Kunst/Literatur selbst zu historisieren wäre).
– Wie haben beispielsweise politische Lesekreise politisches Bewusstsein geprägt? Welche Ideologien werden durch einen Gebrauch befördert, der diesen dem ästhetischen Wert der Literatur unterordnet?
– Auch wenn die universitäre Literaturwissenschaft dies gerne vergisst, ist eine ihrer Hauptaufgaben die Lehrer_innenausbildung. Sie ist also in erheblichem Maße auf das Erlernen eines Gebrauchs von Literatur in der Schule ausgerichtet. Zu fragen wäre diesbezüglich: Wie soll das Lesen von Literatur im Deutschunterricht zur Entwicklung von Kompetenzen beitragen und damit der Bildung und Erziehung von Schüler*innen dienen? Wie wird hier kritisches Denken befördert?
– Wozu brauchen wir Literatur, wenn wir sie gerade nicht lesen? Wie wird Literatur – in welcher materiellen Form auch immer: als Buch, Buchseite, in Zeitungen und Zeitschriften – umgenutzt oder zweckentfremdet? Welche Bedeutungen produzieren diese Zweckentfremdungen und ändert sich dadurch auch die Literatur selbst?
– Wird Lesen in der Literaturwissenschaft überbewertet gegenüber dem Gebrauch des literarischen Buchs beispielsweise als Blätterpresse oder Ellbogenstütze?
– Lassen sich hier produktive Anschlüsse zu einer praxeologisch orientierten Literaturwissenschaft denken?

Die Redaktion bittet bis zum 25. November 2019 um Vorschläge für Beiträge zum Thema (Abstracts für z.B. Aufsätze, Essays, Interviews, Rezensionen, Polemiken) an unsere E-Mailadresse: undercurrentsforum@gmx.de. Die ausgewählten Beiträge, die eine Länge von 3000 Wörtern nicht überschreiten sollen, sind dann bis zum 28. Februar 2020 an die Redaktion zu schicken. Die Redaktion behält sich eine Auswahl aus den eingesandten Texten vor.

Redaktion Undercurrents, Oktober 2019